Das Eisenbahnunglück mit den Panzern aus Komotau am 30. Mai 1945 in Marienberg-Hüttengrund
Das Eisenbahnunglück mit den Panzern aus Komotau am 30. Mai 1945 in Marienberg-Hüttengrund
Reitzenhain, Mittwoch 30.05.1945.
Reitzenhain, dieser kleine Grenzort lebt in diesen Tagen wie überall in Deutschland weiter in den Schrecken des Krieges. Der Ort gleicht wieder einmal einem Heerlager. Aus der Tschechei kommend, marschieren sowjetisch-mongolische Infanterieeinheiten stundenlang in strenger Marschordnung nach dem Taktschlag eines vorangehenden Trommlers im Geschwindschritt in Richtung Marienberg – Chemnitz.
Die Fuhrparkkolonnen haben Mühe, dem Marschtempo zu folgen, die Geschirrführer treiben die Pferde öfters zum Trab. Dabei ist dieser Mittwoch ein sonniger, heißer Tag und den Kolonnen sind die Strapazen anzusehen. Der Krieg ist für sich doch gewonnen, wozu also diese Eile?
Aber von dieser auffälligen Hast in der Truppenverschiebung nimmt die Bevölkerung kaum Notiz. Warum auch, sie quält andere Sorgen. Sorge um ihre Angehörigen, von denen sic ohne Nachricht sind. Sorge auch darum, wie sie sich selbst den Forderungen jeden neuen Tages stellen können.
Und da ist noch ein anderes Unbehagen:
Seit geraumer Zeit steht ein riesiger Transportzug einer sowjetisch-mongolischen Panzereinheit in Bataillonsstärke auf dem Bahnhof. Von Krima (jetzt Krimov) mit Hilfe von Schiebeloks die enorme Steigung nach Reitzenhain hinaufgedrückt, belegt der Zug mit 40 G-Waggons und mehreren vierachsigen Piattformwagen, die mit Panzern vom Typ T 34/85, Geschützen, Lastwagen und anderem Kriegsgerät beladen sind, die gesamte Länge des Ausfahrtgleises. Nunmehr, da die Schiebeloks wieder in die Tschechei zurückgeführt sind, ist dem Zug nur noch eine Lok der BR 52 – die bekannte Kriegslok – vorgespannt. Die Länge der Transporteinheit gibt vor den Puffern der Lok gerade noch die Straßenbreite mit den Schranken frei.
Die Soldaten dieses 500 Mann starken Bataillons nutzen den Aufenthalt im Ort, um Ausschau nach ihrer Art zu halten. Wer von den Frauen und Mädchen kann, flüchtet in die Nachbargemeinden oder versteckt sich im Wald, um den „Soldatenspäßen“ zu entgehen, wie ihr großer Generalissimus Vergewaltigungen verharmlosend nennt. Was sich aber hinter diesem Begriff eigentlich verbirgt, ist den Bewohnern spätestens seit den Vorgängen in Nemmersdorf/Ostpreußen zur Genüge bekannt geworden. Derweilen werden im Ort die Wohnungen im Sieges- und Alkoholrausch untersucht, es wird mitgenommen, was begehrenswert erscheint. Schließlich lässt es sich unter Federbetten auch in einem Güterwagen besser schlafen.
Die Bevölkerung sehnt den Augenblick herbei, da dieser Transportzug endlich Reitzenhain verlässt. Aber gerade die Abfertigung und Freigabe des Zuges zur Weiterfahrt über die enorme Gefällestrecke in Richtung Marienberg unter dieser Last bereitet dem verantwortlichen Bahnpersonal Sorge.
Der Lokführer Basner kennt die Strecke, kennt auch die Last, die an seiner Lok hängt und weigert sich zu fahren. Aber er entscheidet nicht allein so, auch die anderen Verantwortlichen zögern die Abfahrt hinaus. Hat man auf Zuführung einer weiteren Lok gehofft, ahnte man zudem technische Unsicherheiten in dem unter Nachkriegswirren zusammen gestoppelten Wagenmaterial? All diese Fragen lassen sich heute nicht mehr beantworten, aber auch ein Laie würde erkennen, dass mit dieser Last die Fahrt mit einem großen Risiko verbunden ist.
Und das geben alle Befragten übereinstimmend an: Die Abfahrt des Zuges wurde unter Androhung von Waffengewalt von dem sowjetischen Major erzwungen.
Dem heißen Tag folgte in den Abendstunden ein schweres Gewitter, als um 22:00 Uhr der Zug abfuhr. Ein Sicherheitshalt sollte auf der Ausrollstrecke im Bereich des Ortsteiles Gelobtland gemacht werden, am Bahnhof Marienberg dann ein planmäßiger Halt. Zu beiden Zughalten kam es nicht, die Bremswirkung reichte nicht und der Transport geriet in immer schnellere Fahrt. Beständig und laut Signal gebend, raste der Zug schon mit hoher Geschwindigkeit in die größte Gefällestrecke, die am Goldkindstein oberhalb von Marienberg beginnt. Durch die beständigen Pfeifsignale aufmerksam gemacht, wurde von der Stadt aus beobachtet, wie der Zug im Dunkel der Nacht mit glühenden Bremsen und Radreifen funkensprühend in dem Felseinschnitt verschwand und dann mit ohrenbetäubendem Donnern durch den Bahnhof raste. Es grenzt schon an ein Wunder, daß der Zug nicht schon vorher in der großen Kurve nach dem Felseinschnitt aus den Schienen gesprungen ist.
Im zweiten engen Felseinschnitt des Ortsteiles Hüttengrund, zwischen den Streckenposten 9 und 10, unmittelbar hinter der Brücke über den Schlettenbach, kam es zur Katastrophe. Hatte sich durch die enorme Fliehkraft in der Linkskurve das Geschützrohr mit Panzerturm eines T 34 von allein nach außen gedreht, oder aber hat sich die Besatzung vor dem Gewitterregen und der Kühle der Nacht in den Panzer verkrochen und dabei zur Erwärmung den Motor angelassen? War dabei der Turm gedreht worden?
Das Geschützrohr eines T 34 rammte sich bei dieser rasenden Fahrt in die rechtsseitige Felswand, riss 5 Plattenwagen ab, streifte mit einem mörderischen Krach alle Panzer der nachfolgenden Waggons ab. Die Panzerkuppel riß ab. die Munition, die im T 34 kuppellastig untergebracht ist, flog durch die Gegend, ohne zu explodieren. Für die Besatzungen, die in den Panzern waren, bestand keine Chance. Sie wurden z.T. regelrecht entleibt. Der gewaltige Schlag wurde auch in Marienberg gehört, zunächst aber als Gewitterdonner oder als irgend eine Explosion gedeutet.
Marienberg/Hüttengrund, Donnerstag 31.05.1945
Dem Gewitter der Nacht folgt ein ausgesprochen kalter Morgen. Schon früh werden in der Stadt Arbeitskolonnen von russischen Soldaten zusammengetrieben. Wer nicht schnell genug einen schützenden Hausflur findet, hat sich einzureihen. Von rotbebindeten Kommunisten begleitet, geht der Marsch zur
Unglücksstelle zu Aufräumarbeiten. Und dieser Menschenfang wiederholt sich von nun an für längere Zeit täglich.
Am Tag zeigt sich nun das ganze Ausmaß der Katastrophe – ein Chaos.
In dem engen Felseinschnitt liegen die Tanks durcheinander, übereinander, aufgestülpt, verknäult mit den Trümmern der Plattenwagen. Hilferufe, Jammern und Stöhnen kommt von den in den Trümmern Eingeschlossenen. Und das zum Teil tagelang, denn die Bergung ist schwierig.
Ein Kran, der mindestens 40 t heben könnte und dazu weit in den Felseinschnitt reichen muss, steht nicht zur Verfügung. Also bleibt mühsame Handarbeit mit schweren Eisenbahnwinden. Zur Unterstützung der Winden und zum Herausziehen der Trümmer hat das BW Pockau eine Lok an die Unfallstelle geschickt. Sie bleibt für längere Zeit in dem nächsten Felseinschnitt oberhalb des Sägewerkes Mauersberger stationiert.
Der eigentliche Transportzug war, nachdem die fünf Waggons abgerissen wurden, bis Pockau durchgerast. Erst dort konnte er auf der Ausrollstrecke zwischen Sägewerk Schubert und dem Sportplatz zum Stehen gebracht werden.
Von nun an gibt es für die Bewohner der näheren Umgebung der Unglücksstelle schlimme Tage. Es muß wohl zugestanden werden, dass es für die Soldaten, die von den Vorgängen in Reitzenhain, von der erzwungenen Abfahrt und den Bedingungen der Strecke keine Ahnung hatten, nur eine Unfallursache gab: Es war Sabotage der Deutschen. Und auf das Wort Sabotage waren die sowjetischen Soldaten ohnehin gedrillt, dementsprechend auch ihr Vorgehen.
Die ersten Personen, die Repressalien über sich ergehen lassen mußten, waren die Schrankenwärter der Streckenposten 9 und 10. Wieder und wieder zusammengeschlagen, verprügelt, die Zähne ausgeschlagen und den Hang hinuntergestürzt, so berichtet der Wärter Siegert später: „.er habe in seinem ganzen Leben noch nicht so viel Prügel bezogen, wie in jener Nacht…“.
Die anderen Bewohner, auch der Häuser der Ziegelscheune, werden mit Kolbenstoßen zusammengetrieben und dann in Reihe wie zur Erschießung aufgestellt. Es bleibt aber bei der Drohkulisse.
ln den Werkräumen der ehemaligen Tischlerei Oestreich (jetzt Kunstgewerbe Reichel) ist ein provisorischer Verbandsplatz eingerichtet.
Inzwischen sind die ersten Toten aus den Trümmern geborgen. Zuletzt werden 18 Särge benötigt, zu deren Lieferung das Sägewerk Mauersberger kommandiert wird. Schließlich haben Särge was mit Holz zu tun. Man entschließt sich zu einer gewagten Tour mit dem Fahrrad nach Rübenau. Gewagt allein schon deshalb, weil Fahrräder damals begehrte Beuteobjekte waren. Man hat in Rübenau Erfolg, die Firma Ulbricht – Sargfabrik – liefert die Särge, es sind rohe Anfertigungen.
Im Laufe des Tages wird die Unfallstelle mehr und mehr abgeriegelt, Zuschauer von den Posten auf gehörige Distanz gehalten.
Aber auch das gibt es in den folgenden Tagen wieder: Die Jagd auf Frauen und Mädchen.
Für die, die es oft haben hören müssen, klingt das „…dawai, dawai suda, Frau kumm…“ schrecklich genug und lässt sich nicht mehr aus dem Gedächtnis streichen. Und da wagen die Frauen und Mädchen aus den beiden Häusern des Hüttengrundwerkes einen Schritt der Verzweiflung. Vor den Zudringlichkeiten der Soldaten aus den Häusern geflüchtet, finden sie ihre Wohnungen stets wieder aufgebrochen. Sie wenden sich geschlossen an die eben in Marienberg eingerichtete Kommandantur und bitten um Hilfe. Und
was kaum zu erwarten ist, geschieht. Es erscheint die mit Armbinden gekennzeichnete Militärpolizei und verprügelt ihre eigenen Waffenkameraden, die sie auf frischer Tat ertappt haben, nach Strich und Faden. Fortan gibt es für die Bewohner um die Unfallstelle herum etwas weniger an Belästigung.
Die Bergungs- und Aufräumungsarbeiten ziehen sich mehrere Wochen hin.
Alle militärischen Wrackstücke werden über das Sägewerksgrundstück gezerrt, geschleift und abgefahren. Was an Lagerschuppen dabei im Wege stand muß weichen. Die Instandsetzung der völlig zerstörten Gleisanlage dauerte bis August. Damit gibt es keinen weiteren Rücktransport sowjetischer Einheilen per Bahn, aber auch Marienberg bleibt von jeder Bahnversorgung abgeschnitten.
Drei der völlig zertrümmerten vierachsigen Plattformwagen mit dem Kennzeichen SNCF – Französische Staatsbahn – wurden zum Bahnhof Zöblitz geschleppt. Dort lagerten sie noch mehrere Jahre auf dem Abstellgleis vor dem Prellbock.
Das ganze Bahnpersonal wurde inhaftiert und für das Unglück verantwortlich gemacht. Bis auf den Heizer hat keiner die Haft überstanden.
Ihre Namen:
Herr Kaden, Linus, Bahnvorstand
Herr Bräuer, Walter, Fahrdienstleiter
Herr Schreier, Emil, Zugführer
Herr Basner, Lokführer
Herr Uhlig, Bruno, Fahrdienstleiter
Ihre Namen reihen sich ein in die Liste der unzähligen und unschuldiger, Opfer der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Es sei nachgetragen:
Am 8.8.1945 erklärte Moskau Japan den Krieg und begann sofort mit dem Einmarsch in die Mandschurei. Moskau hatte zwar 1941 mit Japan einen Nichtangriffspakt abgeschlossen: man weiß inzwischen was Paktabschlüsse wert sind. Zu einem baldmöglichsten Kriegseintritt mußten die in Europa befindlichen Truppen schnellstmöglich über die transsibirische Eisenbahn nach Asien gebracht werden. Für diesen Einsatz waren sicherlich mongolische Einheiten ausgcwählt worden.
Auch dem Hinweis, daß im Archiv des ehemaligen Reichsbahnamtes Chemnitz ein schmales Aktenstück zu diesem Bahnunglück vorliegt, wurde nachgegangen. Eine persönliche Vorsprache ergab, daß man nicht einmal mehr wußte, dass es dort je ein Archiv gegeben habe.
Für sachdienliche Hinweise zu diesem Bericht ist zu danken:
Herrn Martin Bräuer, Reitzenhain
Herrn Wolfgang Weise, Kühnhaide
Herrn Emil Mauersberger, Marienberg/Hüttengrund
Herrn Günter Schaarschmidt, Marienberg/Hüttengrund
Herrn Heinz Arnold, Marienberg
Dazu wurden Tagebucheintragungen übernommen von Herrn Kurt Krauß, Marienberg.
Verfasser: Günter Krauß
Vielen Dank an das Stadtarchiv der Stadt Marienberg, wo Frau Katrin Pöthke diesen Artikel aus dem Marienberger Wochen-blatt Nr. 12/2003 für den Böhmischen Heimatverlag gesucht und gefunden hat.
Herzlichen Dank auch an Steffen von den Brandauer Heimatfreunden, der uns als Erster von diesem Unfall erzählt hat.
Dieser Artikel wird auch veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe des Heimatmagazins BÖHMISCHE HEIMAT sowie auf der Facebookseite BÖHMISCHE HEIMAT.
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